III - milnerplace

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III

 

Das Meer, das Gedicht und das Haus aller möglichen Mythen

Die Poesie von Milner Place  (von Todd Moore)

Es ist das Erkennungszeichen eines guten Dichters, dass er im Haus aller
Mythen lebt. An seinen Wänden hängen uralte Geschichten, so wie in anderen
Häuser Gemälde von alten Meistern. Die Geschichten sind aus bekannten
und unbekannten Zeichen zusammengezaubert, und in dunklen, stürmischen
Nächten hat der Dichter die Macht, sie in Bewegung zu versetzen, die
Geschichten hin und her zu schieben wie die Kapitel eines endlosen Buchs,
und wenn er schnell, klar und intelligent ist, dauert es nicht lange, bis die
Wände dieses Hauses von der Macht des Universums singen.
Immer wenn ich anfange, ein Buch von Milner Place zu lesen, habe ich dasselbe
Gefühl. Ich weiß, dass ich das Haus eines Dichters betrete, der die besten
alten Geschichten kennt. Es fühlt sich an, als säße ich vor dem Bier aller
Biere. Bei mir ist es so, dass sich das Lesen stets mit dem Klang der Stimme
des Dichters vermischt, und wenn ich nicht weiß, wie er tatsächlich klingt,
muss ich es mir vorstellen, denn der Klang der Stimme und die Beschaffenheit
der Story müssen sich irgendwie vermischen, um die Magie des Mannes
selbst zu spinnen.
Genauso war es auch, als ich das erste Gedicht aus Caminante las. Es hieß
„Der Mann, der die Namen der Bäume vergessen hatte.“ Ich hatte das Gedicht
noch gar nicht gelesen, da liebte ich es bereits, weil ich den Titel so gut
fand. Es traf wie ein Hammer den größten Teil meiner Träume, doch ohne
sie zu zerstören. Stattdessen erweckte der Hammer sie zu einer anderen Art
von Bewusstsein.
Wenn es in „Der Mann, der die Namen der Bäume vergessen hatte“ überhaupt
um etwas geht, dann um Bewegung. Bewegung zu Land und zu Wasser,
in einem Gedicht von Milner Place geht alles sehr schnell. Wenn ich es
nicht besser wüsste, würde ich sagen, er hätte irgendwie Einblick in eine
geheime Vision des Heraklit von Ephesos erhalten.

Ich schäme mich nicht meines Todes, der Streitigkeiten mit der Oberfläche
des Meeres, die rasch erledigt sind, oder meiner Unkenntnis über die Herkunft
unglaublicher, wimmelnder Fische, wo Felsen die kalten Strömungen
spalten und ihre Zerstreuung aufhalten.

„Wimmelnd“ ist ein Schlüsselwort sowohl für dieses Gedicht als auch für
einen Großteil von Place‘s bedeutenden Werken. Seine Dichtung strotzt
buchstäblich vor Leben, Bewegung, der geographischen Ausrichtung von
Wörtern, die sich zusammen mit der Stimme verschieben. Folgende Strophe
aus „Der Mann, der die Namen der Bäume vergessen hatte“ belegt diesen
Punkt.

Heute sind mir Berge lieber, ich stolpere an Land mit einer Machete, um mir
einen Weg durch die Seetrauben und das Giftholzdickicht zu den Pampas zu
schlagen. Weil ich keine Angst vor Gauchos habe, fange ich ein vorbeikommendes
Pferd.

Place schreibt kenntnisreich und mit großer Vertrautheit über das Meer ebenso
wie das Land, weil er in zahlreichen Städten und Ländern überall auf der
Welt gewohnt hat. Seine große Liebe aber gehört dem Meer. Viele Jahre lang
war er Seemann und Kapitän; erst mit siebenundfünfzig Jahren hat er sich
in einem kleinen englischen Dorf zur Ruhe gesetzt, wo er seitdem Gedichte
schreibt. Doch wenn ich Gedichte sage, meine ich nicht die Tradition eines
Ted Hughes oder Philip Larkin. Place‘s Werk gehört eher der Richtung von
Gerard Manley Hopkins oder Dylan Thomas an. Außerdem ist es stark beeinflusst
von Federico Garcia Lorca und Pablo Neruda, teilweise deshalb, weil
Place lange in verschiedenen spanischsprachigen Ländern lebte. Dennoch ist
seine Dichtung alles andere als Imitation. Ich kenne keinen anderen Dichter
der englischen Sprache, der so wie Milner Place schreibt. Sein Werk ist ganz
einfach einzigartig, unvergleichlich, eine Klasse für sich. Obwohl er sich in
einer postmodernen Welt äußert, hat er nichts Postmodernes an sich. Für
mich ist seine Arbeit vielmehr die eines Minnesängers, eines Erfinders, eines
alten Geschichtenerzählers. All seine Gedichte erzählen eine Geschichte, und
alle längeren Gedichte bringen eine epische Erhabenheit zum Ausdruck, die
an die alten Geschichten erinnert. Hier ein Beispiel aus „Costalago“:

Die Schatten waren noch lang, als Henrique sein Pferd vor Juans Laden festband,
und da es noch zu früh für Hahnenkämpfe war und auf der Straße
nichts zu sehen war, nicht einmal Hunde …

Place hat ein seltenes Talent für die richtige Inszenierung. Sein eigentliches
Genie aber liegt darin, mit halsbrecherischer Geschwindigkeit von Szene zu
Szene zu wechseln, so dass sie gelegentlich fast zu verschmelzen scheinen.
Daher haftet ihnen etwas Traumähnliches an, in manchen Fällen auch Albtraumhaftes.
In „Charlie Ottoway“, einem Gedicht aus In A Rare Time Of
Rain findet sich der Ausruf: „Zur Hölle mit der Realität“, was sich durchaus
als subtiler Schlüssel zum Verständnis von Milner Places Werk verstehen
ließe.
In einem größeren und bedeutenderen Sinne verdient Places Werk mehr
Aufmerksamkeit als ihm bislang offenbar vergönnt war, ganz einfach deshalb,
weil es so viele Anklänge an vergessene Legenden und Mythen birgt.
8 Tatsächlich erinnert mich der Dichter Place beinahe an den Schiffskapitän
in der Legende des Fliegenden Holländers, weil er durch das Schreiben von
Gedichten immer noch da draußen auf See ist, wo er versucht, sein eigenes
Kap der Guten Hoffnung zu umschiffen.
Das Faszinierende an diesen Meeresgedichten ist, dass sie so viele Bilder heraufbeschwören,
die über sich selbst hinausreichen. Wenn ich an Places Ozean
denke, fallen mir Hemingways Der alte Mann und das Meer ein, Melvilles
Moby Dick, Conrads Lord Jim und Richard Hughes Sturmwind auf Jamaica.

Der Ozean war kaum verändert. Er dehnte sich ins Unendliche; er wogte auf
und ab wie ein Wal, ohne die Seeläuse und Rankenfüßer zu bemerken, und
ignorierte das selbstherrliche Schaukeln der Schiffe …

aus „Top Hold“ in In A Rare Time of Rain.

Beim Verfassen dieser Zeilen kam mir die Idee, dass Place irgendwo im Golf
von Mexico Hemingway begegnet sein könnte, während er dort als Kapitän
einer Jacht unterwegs war. Vielleicht haben sie in Havanna zusammen ein
Bier getrunken. Oder auch nicht. Vielleicht hat Place ihn erkannt, wollte ihn
aber nicht stören. Er sitzt in einer Hafenkneipe, deren Wände mit Knarren,
Harpunen, Bajonetten und Gaffen, mit Netzen, Tauen, Haken, Belegnägeln
und alten Schnappschüssen von großen Fängen und riesigen Fächerfischen
geschmückt sind, all dem Stoff, aus dem Legenden gemacht sind. Hemingway
erzählt dem Wirt, dass er gerade Der alte Mann und das Meer beendet
hat, dass er müde ist, aber auch glücklich. Der Wirt gibt ihm einen Drink aus
und respektiert Hemingways langes Schweigen, indem er ebenfalls schweigt.
Place aber sitzt nur da und trinkt sein Bier, genießt Hemingways Schweigen
und das Gefühl des Meeres, das gleich da draußen ist, nur wenige Schritte
vom Eingang zum Haus aller Mythen und dem Gedicht entfernt, das über
alle anderen Gedichte triumphieren wird. Er weiß, dass er es schreiben und
dann mit den Walen schwimmen wird.


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